Jochen Reidegeld über vermeintlich verstaubte Werte

Selbstsorge über alles: Warum das gefährlich ist und Tugenden helfen

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Wenn die Welt komplizierter ist, klingt die Lösung verführerisch: wegsehen und sich um sich selbst kümmern. Warum das die Lage eher noch schwieriger macht und was er stattdessen rät, sagt Jochen Reidgeld in seinem Gast-Kommentar.

Wenn ich mich in der Welt der sozialen Medien bewege, dann begegnet mir neben vielen anderen Themen doch überraschend oft die Frage: „Wie kann ich glücklich und im inneren Frieden leben? Was gibt mir Halt?“ Ich kann gut verstehen, dass dies viele Menschen bewegt. Was mich aber als Christ und Bürger nachdenklich macht, sind die Antworten auf diese Fragen. Sie schlagen sich nieder in Zeitungsüberschriften nieder wie „Schlagzeilen-Burnout - Warum viele Menschen keine Nachrichten mehr hören oder lesen“. Die Deutschen sind nachrichtenmüde. 

So verständlich diese Reaktion erst einmal ist angesichts der vielen gleichzeitigen Krisen ist: Diese Reaktion, für die die Soziologie den Fachbegriff „News-Fatigue“ erfunden hat, gefährdet unsere Gesellschaft. Denn sie führt dazu, dass es immer weniger informierte Bürgerinnen und Bürger gibt, dass die Anfälligkeit für Fake-News steigt und die Zivilgesellschaft geschwächt wird. 

Leben im “Hier und Jetzt”

Der Autor
Jochen Reidegeld ist Priester des Bistums Münster, war stellvertretender Generalvikar und Kreisdechant. Zurzeit arbeitet er als Research Fellow am Institut für Theologie und Frieden, einer Einrichtung des deutschen Militärbischofsamts, in Hamburg.

Eine zweite Reaktion begegnet mir in Ratschlägen wie: „Lebe so, als wäre jeder Tag dein Letzter“ und in der zunehmenden Tendenz, dass Sorge vor allen „Selbstsorge“ ist. Wenn unsere Vorfahren nur im Moment und für sich gelebt hätten, dann hätten sie keinen Obstbaum gepflanzt, von dem wir jetzt essen. 

Nur im „Hier und Jetzt“ zu leben und nur für sich zu sorgen, führt genau zu jenem Überverbrauch der Erde und seiner Güte, welche die Zukunft und das Recht kommender Generationen aus dem Blick verliert. Das macht uns zu Sklavinnen und Sklaven eines bedürfnisorientierten Konsums. 

Aus der Mottenkiste

Es ist kein Zufall, dass die deutschen Bischöfe in ihrem Wort zum Thema „Frieden“ eine Antwort auf diese Herausforderung geben. Denn genau der innere und äußere Frieden einer Gesellschaft ist gefährdet, wenn die Menschen nach diesen Ratschlägen in den sozialen Medien leben. 

Die Antwort, die die deutschen Bischöfe auf diese Herausforderung geben, scheint auf den ersten Blick aus der absoluten Mottenkiste zu stammen. Sie empfehlen uns, dass wir uns wieder mehr mit den Tugenden beschäftigen. – Geht’s noch verstaubter?

Kompass statt kleinkarierte Moral

Den Grund benennen sie in einem der eindrucksvollsten Sätze des Friedenswortes: „Die Verheerungen und Verwüstungen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart belehren uns eindringlich über die unmenschlichen Folgen einer Politik, die sich von allen moralischen Bindungen befreit. ‚Jenseits von Gut und Böse‘ wartet nicht der eigenverantwortliche Mensch, sondern die Hölle verantwortungsloser Unmenschlichkeit.“

Die Tugenden sind von ihrem Ursprung her kein Instrument der kleinkarierten Moral, sondern sie sind ein innerer Kompass, der uns als Einzelnen Halt gibt. Die Tugenden helfen uns, über das eigene Interesse hinaus unsere Mitmenschen und ihr Wohl im Blick zu halten. Zugleich können die Tugenden zu einem gesellschaftlichen Gegenmittel zu jenem Populismus werden, der vor allem daraus lebt, zwischen „denen“ und „uns“ zu unterscheiden, und der spaltet, anstatt Brücken zu bauen. Vielleicht startet Kirche+Leben ja in diesem Jahr mal eine Reihe zu den Tugenden. Ich fände das sehr zeitgemäß und gar nicht verstaubt.

In unseren Gastkommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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